Stilfser Joch

Kennst du es, das Stilfser Joch? Ein mächtiger Berg in einem der nördlichsten Gebiete Italiens. Der Schweizer Kanton Graubünden grenzt direkt an Italien. Ob es ein schöner Berg ist kann ich nicht sagen. Mir hat sich seine Passhöhe von beinahe 3000m ins Bewusstsein gebrannt. Meines Wissens, die höchste befahrbare Passstraße der Alpen. Heerscharen von Radfahrern quälen sich die steilen Serpentinen den Berg hinauf. Für PKW und Busse nicht immer ganz einfach an den Sportlern, oder Wahnsinnigen, vorbei zu kommen. Als ich mich das erste mal der Herausforderung stellte, wusste ich nur...es wird steil, der Aufstieg wird lang, vermutlich wird es die Hölle. 

Ja, so kam es. Du fährst die noch flache Straße hinein in ein Tal. Als es bereits leichte Steigungen zu bewältigen gab, die letzten Häuser eines Dorfes. Ab hier wird der Berg „gnadenlos“. Noch führt die Straße durch einen Wald. Immer wieder ändert sie in 180° Kurven ihre Richtung. Während du in den Außenkurven, also links rum, eine leichte Entspannung geboten kriegst, sind die Rechtskurven extrem hart zu fahren. Einerseits sehr eng geführt, und dann hast du das Gefühl du fährst senkrecht eine Wand hoch. Kaum aus der Kurve heraus, kannst du den einfahrenden Verkehr bereits von oben betrachten. So geht es munter mal links- mal rechts rum. Da du dich im Wald bewegst, fehlt dir der Überblick über die geleistete Höhe und über das Stück das noch vor dir liegt. Wie sich später heraus stellen wird, ist das gut so.

Noch im Waldstück passierst du eine Kurve die mit einer Nummer versehen ist…48!!!! Noch kann ich diese Zahl nicht einschätzen. Erst als die nächst Schleife mit 47 gekennzeichnet ist, wird mir klar wie viele dieser Serpentinen noch vor mir liegen. Und kurz darauf wird es hell, der Wald lichtet sich, er ist zu Ende. 

    Gänsehaut Feeling, der Berg liegt vor dir, zeigt beinahe alle Kurven die es zu bewältigen gilt. Und ganz, ganz weit hinten, super klein, das könnte der Pass sein!? Ich schrei mir die Begeisterung aus dem Hals heraus, immer wieder, immer wieder… unglaublich!!!! Bisher kannte ich solche Bilder nur von Ansichtskarten. Und jetzt darf ich da rauf, und ich werde da rauf fahren, und ich werde den Fuß nicht einmal auf den Boden setzen! Sonst hätte der Berg gewonnen! Es spielt überhaupt keine Rolle, wie lange ich für den Aufstieg brauchen werde. Oben ankommen…mehr nicht!

Nur soviel...ich hab's geschafft!!

Die Erstbesteigung bewältigte ich mit meinem Rennrad im September 2009, ohne Gepäck. Da war ich 51 Jahre alt.

 

Jetzt mach ich einen „Cut“ und wir befinden uns 8 Jahre später, im Juni 2017, und ich bin 59 Jahre. Diesmal fahre ich mit einem Tourenrad, Satteltaschen und das Gepäck für drei Tage, so ca. 15 Kg.

Nachdem ich am frühen Morgen mit dem Auto angereist bin, finde ich bei Landeck eine Parkmöglichkeit wo ich das Auto hätte drei Tage stehen lassen können. Es war 7:30 Uhr, ich stelle das Rad auf die Straße, schnalle das Gepäck auf den Gepäckträger und los geht meine Reise. Die Straße führt direkt auf den Reschen Pass, mein erster Pass an diesem Tag.

Auf der Passhöhe führt die Straße vorbei an einem See aus dem noch ein Kirchturm heraus ragt. Dann geht es steil bergab, bis zur Kreuzung ab der es dann Richtung Stilfser Joch geht. Diesmal wusste ich ziemlich genau was mich erwartet. Aber ich war acht Jahre älter, hab 15 Kilo Gepäck, Belastungsasthma, und Herzvorhofflimmern. Es war klar, der Berg bekommt seine Pausen, wie viele ist grad egal. Obwohl ich auf die Tortur vorbereitet war, gibt es ordentlich was zu jammern. Es ist kaum zu glauben wie viele Motorräder eine Straße aushalten kann. In den acht Jahren hat sich deren Zahl sicher verzehnfacht! Für einen Radfahrer die Hölle. Im Internet kannst du erfahren wie viele Bikes da raufheizen. Es werden alle Zweiräder fotografiert, auch Radfahrer. Dann kannst du dir dein Foto nach Hause schicken lassen, gegen Bares, versteht sich! Aber du kannst auch an Hand der Nummerierung ablesen wie viele den Berg hochgedonnert sind. Es waren in der Zeit meines Aufstiegs beinahe 2000 Motorräder die alle an mir vorbei gestunken sind. Alle 10 Sekunden eines!

Vereinzelt jedoch, treffe ich auch Radfahrer. Diesmal werde ich schon öfter überholt. Das war beim ersten Mal schon eher anders herum. Wenn mich da einer überholte blieb ich dran bis klar war wer von uns beiden die besseren Beine hatte. Diesen Ehrgeiz musste ich mir abgewöhnen, und das funktionierte nur mit einem anderen Fahrrad, diesem Tourenrad eben. Langsam fahren auf nem Rennrad, funktioniert nicht! Also dann ein Tourenrad. Hier hab ich schon eine lockere Sitzposition und mein Kopf sagt…..fahren lassen!!!! Du machst dein Ding.

Die Situation will es so, dass ich immer wieder an einem Radler vorbei fahre, der gerade Pause macht. Und es ist immer wieder der gleiche. Irgendwann fangen wir an uns zu grüßen, weil er fährt ja wieder an mir vorüber, wenn ich pausiere. Ich fass den Entschluss, beim nächsten Mal fahr ich zu ihm und lerne ihn kennen. Und so kommt es, ich sehen ihn schon von weitem am Straßenrand und kann eine Pause auch ganz gut gebrauchen. Au prima, er spricht deutsch… wir beginnen zu reden. Erst mal vorstellen, klar. Wie er heißt und woher er kommt, ich weiß es nicht mehr. Ist ja auch Wurschd. Die Geschichte die er mir erzählt, die werde ich wohl nie vergessen.

Er war krank, eine schwere Krankheit fesselte ihn mehr und mehr an einen Rollstuhl, bis er völlig auf ihn angewiesen war. Die Ärzte sprachen davon, dass seine Beine amputiert werden müssen, sonst können sie für nichts garantieren. Völlig geschockt von dieser Diagnose, verbrachte er ein paar Tage mit „Überlegen“ was tun! Der Entschluss den er fasste, erfreute die Ärzte überhaupt nicht, die hatten die Messer bereits geschliffen.

Mein Radkumpel beschloss sich einen Heimtrainer zu kaufen und setzte sich täglich mehrmals drauf. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Seine Beine wurden kräftiger, und er konnte auch wieder gehen. Dann wurde es ihm auf dem Heimtrainer zu öde…ein Fahrrad muss her, er will auf die Straße. Es dauerte, ich weiß nicht mehr genau waren es zwei oder drei Jahre, und er war so fit auf dem Rad, dass er sich an einen Pass wagte. Diese Passfahrt war ein voller Erfolg, sodass er sich an „Größeres“ wagen konnte. Das Stilfser Joch, der König der Pässe, die Hölle! Seit der Zeit, und das waren auch schon fünf Jahre, fährt mein neuer Radkumpel das Stilfser Joch jedes Jahr. Und dieses Jahr 2017 lernen wir uns kennen. So verschwitzt wie wir sind umarmen wir uns und sind glücklich über diese Begegnung. Natürlich erzähle ich ihm auch meine Geschichte, die ja auch nicht ganz alltäglich ist.

Leider versäumen wir unsere Adressen zu notieren, so ist der Kontakt auf diese Straßenbekanntschaft beschränkt. Aber wir wissen voneinander und ich denke oft an ihn.

Nach ca. sechs Stunden Aufstieg, erreiche ich die Passhöhe. Natürlich herrscht hier oben wieder „Volksfeststimmung“. Ich besorgte mir eine Grillwurst, und setz mich ein wenig abseits auf eine Stufe einer Steintreppe, sie liegt im Schatten, und ich kann von hier in die Berge sehen, in die Richtung aus der ich angefahren kam. Ich sitze hier, komme zur Ruhe, meine Gedanken gehen zurück in den bisherigen Tag, die vierstündige Anreise mit dem Auto, die Besteigung des Reschen Passes und gerade fertig gestellt, die Zweitbesteigung des Stilfser Jochs. Es ist kurz vor vierzehn Uhr, meine Beine sind noch einigermaßen fit. An Aufhören ist nicht zu denken. Eigentlich sah mein Plan vor, hier auf dem Pass ein Zimmer zu mieten und am nächsten Tag die Tour fort zu setzen. Aber Aufhören kann ich an jedem anderen Punkt der Strecke genau so. Im Moment jedenfalls, will ich noch wissen was meine Beine zu leisten bereit sind. Wenn ich mich in ein Zimmer verkrieche werde ich das nie erfahren! Die Chance wäre dahin!!!

Ich schau auf die Karte, als nächste Station ist der Umbrail Pass. Der allerdings einige Meter tiefer liegt…kann also nicht so wild werden. Auf zum Umbrail, dann sehe ich weiter.

Es kommt wie erwartet, der Umbrail ist nur eine ganz kleine Anforderung. Und so fahre ich direkt über den Pass ohne nennenswerte Pause.

Ein kurzer Blick auf die Karte...nur zur Orientierung.

Die Abfahrt nach Santa Maria ist nicht allzu steil, dennoch reklamieren meine Hände, Arme und Schultern und quittieren es mit zunehmenden Schmerzen. Ja und meine Füße, die zeigen sich wie in alten Zeiten. Eingeschlafene Zehen, die bei wiedererwachen höllisch schmerzen. Mein Problem seit je her…Nervenbahnen deren Enden zu weit nach außen zur Haut hin gewachsen sind, werden abgedrückt und schlafen ein. Es hilft ein wenig, wenn ich die Stellung meiner Füße auf den Pedalen verändere, was beim Rennrad mit seinen Klickpedalen nicht möglich war. Nun gut, Schmerzen gehören zum Geschäft, auf solchen Mamut Touren sowieso.

 In Santa Maria links abbiegen und wir (mein Rad und ich) befinden uns auf der Straße Richtung Ofen Pass. Kurzer Blick auf die Karte und auf die Uhr. Mal sehen wie heftig dieser Pass werden wird. Langsam keimt in mir die Vorstellung es noch am selben Tag bis zum Auto zurück zu schaffen. Natürlich machen mir mittlerweile auch schon die kleineren Pässe zu schaffen. Ich fahre nur noch mechanisch, immer gegen den Rest der Strecke, der mit jedem gefahrenen Kilometer kürzer wird. Die scheiß Passhöhe muss doch irgendwo bald auftauchen. Wieder eine Kurve hinter der die nächste Kurve, und noch mal eine… ich habe die Schnauze voll und keine Kraft mehr. Ich beschließe die letzten paar Meter zu Fuß hinter mich zu bringen. Das tut auch meinen Füßen sehr gut. Es sind keine 500 Meter und die Passhöhe ist erreicht.

Ein Blick auf Uhr und Karte… na ja, viele Up and Down können nicht mehr vor mir liegen. Auf der Karte ist kein Pass mehr verzeichnet, der Streckenverlauf ist allerdings verdächtig kurvig. Und noch bevor ich Zernez erreiche muss ich noch über so einen Pass, der so migrig zu sein scheint, dass er nicht mal namentlich in der Karte vermerkt ist. Mir allerdings, dessen Kraftverlust inflationär ist, ringt dieser „sanfte Hügel“ alles ab was noch ein Pedal nach unten drücken kann. Und mittlerweile rebelliert mein ganzer Körper aber ich fahre Kilometer um Kilometer meinem Auto entgegen. Allmählich setzt die Dämmerung ein und ich sehe auch weshalb das so schnell geht. Der Himmel zieht zu, es riecht nach Regen. Und das geht hier in den Bergen sehr schnell. Ich erreiche die Stelle an der sich meine Tour zu einer Schlaufe schließt. Und ich weiß…es ist nicht mehr weit. Aber der Regen wird massiver, es ist tiefe Nacht, die Uhr spricht einundzwanziguhrdreißig. Und da ist es, genau so wie ich es abgestellt hatte, mein „Gölfle“. Kofferraum auf, die Satteltaschen und Lenkertasche rein. Tacho und Trinkflaschen hinterher und das Rad, mein treuer Freund, auf den Radständer geschnallt.

 

Vor mir liegen vier Stunden und 330 km Heimfahrt.

Ich fahre los, meine Erleichterung ist riesig. Kann es noch nicht fassen dass ich das geschafft hab. Deutlich spürbar schwillt mein Stolz in mir hoch. Und leider muss ich feststellen, dass Stolz müde macht. Noch setz ich mich dagegen zur Wehr, aber von Minute zu Minute verschwimmen die Konturen der Straße. In einem Tunnel knall ich auf einen Randstein. Da wird mir klar, so komm ich nicht heim. Ich steure eine Autobahnraststätte an. Kaum dass ich stehe, drehe ich die Lehne runter. Der Sitz ist eh schon ganz hinten. Meine Augenlider schlagen auf, ich bekomm das schon nicht mehr mit. Eine gute Stunde dauert mein Nickerchen, und ich fühle mich wieder fit. Noch ein kurzes Pipi und weiter geht es heimwärts. Halb vier Uhr in der Frühe, fahre ich in meinen Car Port ein aus dem ich 25 Stunden zuvor herausgefahren war.

Trinken, duschen, trinken, trinken und ab ins Bett. Seltsamer weise lag ich im Bett und konnte bestimmt eine halbe Stunde lang nicht einschlafen. Ich stand noch deutlich unter Strom. Aber dann…..

 

Das war meine letzte große Tour. Ich denke es wird die letzte ihrer Art gewesen sein. Als ich noch jung und gesund, also ohne Asthma und Vorhofflimmern war, hatte ich jedes Jahr mindestens eine Tour gefahren, während der ich meine Leistungs­grenze getestet habe. Auf Leistungstests habe ich keinen Bock mehr. Es reicht mir völlig, dass ich noch jeden Berg hochfahren kann den ich mir vorgenommen habe. Dabei ist stets der Weg das Ziel. Aber mal sehen was noch kommt….

Diese Tour hatte ich auch nicht mehr auf dem Schirm.

Als ich nach dem schweren Rollerunfall, noch krankgeschrieben, alleine zu hause rumlag, schaute ich mir die Fotos von meiner Stilfser Joch Eroberung an. Heike war damals als Begleitung mit dem Auto nebenher gefahren und hatte Fotos gemacht. Jetzt lag ich da, schaute mir die Bilder an und heulte was die Tränensäcke bereit waren herzugeben. Es waren Tränen der „Freude“ und des „Stolzes“. Ich war so unglaublich froh darüber diese Tour gemacht zu haben. Und vielleicht war die Lunte gelegt für meine sensationelle Genesung, damit ich noch einmal diesen unglaublichen Berg befahren durfte.